Text: Emanuel Slaby, Fotos: Bernd Limbach/Emanuel Slaby
… und plötzlich geht die Schranke auf
oder: Was sonst noch bei der Tourenplanung wichtig sein kann und in keinem Alpinlehrplan steht …
Donnerstag, 15.09.2016, 6:38 Uhr, Campingplatz Ötztal, Längenfeld. 3 Bergsteiger (Bernd, Anne und ich) – die beiden Letzteren mehr Bergsteigeranwärter auf dem Weg zum ersten 3000er – sehen im dunklen Morgenlicht die orangene Warnlampe aufleuchten und stürmen wie ein GSG-9-Kommando in das Auto, um keine drei Sekunden später freudestrahlend durch die geöffnete Schranke zu brettern.
Was war passiert?
Am Tag zuvor kam uns der Gedanke, unseren wundgekletterten Fingern einen Tag Kletterpause zu gönnen und diese Zeit für eine Fingerkuppen schonende Bergtour in den wunderschönen Ötztaler Bergen zu nutzen. Schnell stellten wir fest, dass Anne und ich noch ohne Dreitausender waren. Ganz klar: Ein Dreitausender musste her. Also gemeinsam mit Bernd über den AV-Karten gebrütet … am Ende fiel unsere Wahl auf den Zwieselbacher Rosskogel. Die Tour sollte von Niederthai über die Schweinfurter Hütte zum 3.082 m hohen Gipfel führen. Als Mitglied der Alpingruppe bekam ich von Bernd die Hausaufgabe der Tourplanung. Also habe ich fleißig mit dem Planzeiger die Entfernung gemessen (9,5 km ein Weg), um und nach der Weg-Zeit-Formel die Gehzeiten zu berechnen. Damit ergaben sich vom Parkplatz in Niederthai bis zur Schweinfurter Hütte 2:20 Stunden, von dort bis zum Gipfel 3:25 Stunden, was zu einer gesamten Gehzeit von etwas mehr als zehn Stunden führte. Unser Zeitplan sah daher eine Abfahrt am Campingplatz um 6 Uhr, Abmarsch am Parkplatz Niederthai um 7 Uhr und eine Ankunft am Gipfel kurz nach 12 Uhr vor, inklusive Sicherheitspuffer. Dass wir diesen schneller als erwartet brauchen würden, war mir bei der Planung natürlich noch nicht bewusst.
Planmäßig um 6 Uhr fuhren wir auf dem Campingplatz los. Unsere Zeitplanung lobten wir noch („6:02 Uhr: Wir sind noch voll im Zeitplan“), wurden jedoch drei Minuten später am Tor des Campingplatzes von einer geschlossenen Schranke in unserer Euphorie extrem gebremst, besonders nachdem wir das Schild „Von 23 Uhr bis 7 Uhr geschlossen“ gelesen hatten.
War das gestern Abend auch schon da?
Was tun?
Vielleicht schon jemand an der Rezeption?
Fehlanzeige, erst ab 8 Uhr. Also ist Anne losmarschiert, um zu prüfen, mit welchem Aufwand wir die Not-Tore des Campingplatzes öffnen könnten, entschlossen uns aber gegen diesen Ausbruchsversuch. Auch der unter einer Glasscheibe wie ein Feuermelder gesicherte „Notöffnungsknopf“ für die Schranke („Im Notfall Scheibe einschlagen und Knopf tief drücken“) erschien uns etwas unpassend, zumal wir einen Großalarm fürchteten … es war zwar für Anne und mich ein Notfall, unseren ersten 3.000er aus den Augen gleiten zu sehen, aber ob das die eventuell anrückende Feuerwehr auch so sehen würde … also schnell zurück zum Zelt, das Anschlusskartenblatt geholt und eine Alternative gesucht. Die war schon vorab in der Planung aufgekommen, direkt vom Campingplatz losmarschieren und dann mit fast 2.000 Höhenmetern auf den Hauerseekogel mit 3.059 m. Da es mittlerweile 6:30 Uhr war, entschlossen wir uns gegen die Alternative und für das Warten. Und dann plötzlich um 6:38 Uhr …
Als wir um 7:02 Uhr am Parkplatz in Niederthai auf 1.535 m ankamen, waren wir schon fast wieder im original Zeitplan und um 9 Uhr auf der Schweinfurter Hütte bei der herzlichen Hüttenwirtin Carmen, die Bernd noch von der Kaunertalhütte kannte („Wie geht es den Lamas?“), schon schneller als berechnet. Der breite Forstweg mit sanftem Anstieg hatte uns im kühlen Morgenwind zügig vorankommen lassen, so dass wir uns Schokolade, Skiwasser und Tee gönnten und Carmen baten, uns für unsere hoffentlich heldenhafte Rückkehr am Nachmittag je ein Stück Apfelstrudel zu reservieren. An der Schweinfurter Hütte haben wir den Gipfel angepeilt, um unser Ziel vor Augen zu haben, und sind gegen 9:30 Uhr zeitplangemäß auf die 2. Etappe, 1.000 Hm zum Gipfel. Nach nur 500 m Wegstrecke an der Zwieselbacher Sennhütte: alle Gatter zu, viel Grauvieh vor der Hütte.
Wir: „Geht hier der Weg durch?“
Senner: „Normalerweise schon, heute aber nicht“
Wir: „Oh …“
Senner – mit einem schelmischen Grinsen: „Und was macht ihr jetzt?“
Anne und ich: leichte Panikattacke wie vor der Schranke … sollte das hier schon zu Ende sein … aber zum Glück rettete Bernd:
„Dann gehen wir außen ‘rum.“
Senner: „Jo, passts aber auf die Zäune auf, die san mit Strom.“
Puh … also etwas zurück und durch die Wiesen über die Zäune und dann endlich standen wir vor dem Schild: Zwieselbacher Roßkogel (3.028 m) 2:45. Da hatte wohl jemand von der Sektion Schweinfurt einen Zahlendreher beim Schreiben des Schildes, denn die Karte sagte 3.082 m. Egal, und endlich wurde es alpin, im Zickzack hoch Richtung des verblockten Karfeldes. Die Sonne schaute nun über die Gipfel, versteckte sich mal hinter Wolken und dazu ab und an eine Brise ließ uns die Jacken auf- und zu-, an- und ausziehen. Aber die Höhenmeter wurden mehr … „nur noch 500 Hm zum Gipfel“ … „stellt euch vor, wir stehen am Parkplatz vom Klettersteig gestern und spazieren zur Aussichtsplattform, genauso eine kleine Runde ist es jetzt nur noch zum Gipfel“ und schließlich ein „wer nicht höher als 3.000 m kommen möchte, muss jetzt umdrehen“. Schon auf dem Sattel stand sie da, die ersehnte 3 auf dem Höhenmesser.
Die verbleibenden 50 Hm sprintete Anne gämsenartig den Grat Richtung Gipfelkreuz und dann „Pow: 3.082 m: Juchhei“. Zeitplan (11:40 Uhr) weit unterschritten! Große Freude, super Blick, Brotzeit, Strumpfwechsel, Spitzwegerichsalbe auf die Füße (ich in neuen Bergstiefeln) und nun, damit wir nicht ohne Ziel einfach nur herunter müssen: neues Ziel: Für frischgebackene 3.000er-Erklimmer frischgebackener Apfelstrudel von Carmen in der Schweinfurter Hütte.
Zuvor schob Bernd auf dem Schneefeld unterhalb des Gipfelgrats, das wir beim Gipfelsturm im wahrsten Sinne des Wortes einfach „links liegen“ gelassen hatten, eine kurze Lektion „Gehen im Altschneefeld“ ein, queren, auf und ab – der nächste Gipfel kann also ruhig weiß sein! Um uns den mühsamen Abstieg über das verblockte Karfeld zu erleichtern, wurde der „Apfelstrudelindex“ eingeführt. Weil Bernd die ständigen Ansagen nicht mehr hören wollte, gab es alle 200 Hm ein geflüstertes „Pst, Anne“, „Ja?“, „… noch 600 Hm bis zum Apfelstrudel“, was bei der Apfelstrudelindexansage „noch 200“ zu einem „Oh, ich kann ihn schon riechen“ führte. Angetrieben vom Apfelstrudelhunger, haben wir den Abstieg auch statt der anvisierten 1,5 Stunden in 1 Stunde gemacht … die Standard-AV-Formel sollte um den „Apfelstrudelindex“ (Gehzeit * 0,66) erweitert werden ;-). Wieder um die Sennhütte herum und da war sie: die Treppe hinunter zum Eingang der Schweinfurter Hütte: wir alle drei laut den Countdown: 3, 2, 1, APFELSTRUDEL. Das hatte auch Carmen gehört, die uns schnell einen Zirbenschnaps brachte und den ersehnten Apfelstrudel „mit Eis und Sahne bitte“ in Auftrag gab. Das war der leckerste Apfelstrudel nach einem 3.000er, den wir je hatten ;-).
Glücklich, stolz und gestärkt, war der Wanderweg zurück zum Auto kaum zu spüren und um Punkt 16 Uhr waren wir nach 9 Stunden zurück in Niederthai und konnten dann eine Stunde später unsere Beine in der Campingplatzsauna entspannen. Eine tolle Tour!